Der Talisman

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ISBN-13:
9783453877603
Veröffentl:
2004
Erscheinungsdatum:
01.04.2004
Seiten:
1040
Autor:
Stephen King
Gewicht:
580 g
Format:
185x118x55 mm
Sprache:
Deutsch
Beschreibung:
Die perfekte Mischung aus Fantasy und Horror. Im Vorläufer zu King/Straubs Bestseller "Das Schwarze Haus" begibt sich der zwölfjährige Jack Sawyer auf eine weite, abenteuerliche Reise, in der Idylle und Entsetzen nahe beieinander liegen. Meisterregisseur Steven Spielberg hat sich die Verfilmungsrechte an "Der Talisman" für "DreamWorks" gesichert.
Erstes Kapitel

Das Alhambra Inn and Gardens

Am 15. September 1981 stand ein Junge namens Jack Sawyer da, wo Wasser und Land zusammentreffen, die Hände in den Taschen seiner Jeans, und blickte hinaus auf die Weite des Atlantiks. Er war zwölf Jahre alt und groß für sein Alter. Der Seewind wehte ihm das braune, ein wenig zu lange Haar aus der klaren Stirn. Er stand da mit den verworrenen und schmerzlichen Gefühlen, mit denen er seit drei Monaten lebte - seit dem Tag, an dem seine Mutter ihr Haus am Rodeo Drive in Los Angeles geschlossen und in einem Wirbel von Möbeln, Schecks und Maklern eine Mietwohnung am Central Park West in New York bezogen hatte. Aus dieser Wohnung waren sie in den stillen Badeort an der Küste von New Hampshire geflüchtet. Ordnung und Regelmäßigkeit waren aus Jacks Leben verschwunden. Sein Leben kam ihm so unstet vor wie das wogende Wasser vor ihm. Seine Mutter trieb ihn durch die Welt, schleppte ihn von einem Ort zum anderen, aber was trieb seine Mutter?
Seine Mutter flüchtete, flüchtete.
Jack drehte sich um und blickte den leeren Strand entlang, zuerst nach links, dann nach rechts. Links lag Arcadia Funworld, ein Vergnügungspark, in dem vom Memorial Day Ende Mai bis zum Labor Day Anfang September Lärm und Trubel herrschten. Jetzt war er leer und still, ein Herz zwischen zwei Schlägen. Die Achterbahn war ein Gerippe vor diesem monotonen, bedeckten Himmel, die Pfosten und Querträger wie Holzkohlenstriche. Dort drüben arbeitete Speedy Parker, sein neuer Freund, aber der Junge konnte jetzt nicht an Speedy Parker denken. Rechts stand das Alhambra Inn and Gardens, und die Gedanken des Jungen führten ihn unerbittlich dorthin. Am Tag ihrer Ankunft hatte Jack einen Augenblick lang geglaubt, er sähe einen Regenbogen über den Giebeln seines verwinkelten Daches. Eine Art Zeichen, die Verheißung besserer Dinge. Aber da war kein Regenbogen gewesen. Eine Wetterfahne schwenkte, vom Seitenwind erfasst, von links nach rechts und von rechts nach links. Er war aus dem Mietwagen ausgestiegen, hatte die unausgesprochene Bitte seiner Mutter, sich ums Gepäck zu kümmern, ignoriert und nach oben geschaut. Über dem Messinghahn der Wetterfahne hing nur ein leerer Himmel.
»Mach den Kofferraum auf und hol die Tüten heraus, Sonnyboy«, hatte seine Mutter ihm zugerufen. »Eine völlig erledigte alte Schauspielerin muss sich jetzt anmelden und dann nach einem Drink fahnden.«
»Einem elementaren Martini«, hatte Jack gesagt.
»So alt bist du gar nicht, hättest du sagen sollen.« Sie stemmte sich mühsam vom Wagensitz hoch.
»So alt bist du gar nicht.«
Sie lächelte ihn an - etwas von der alten, unbekümmerten Lily Cavanaugh Sawyer, über zwei Jahrzehnte hinweg die Königin der B-Movies, kam zum Vorschein. Sie streckte ihren Rücken. »Hier sind wir gut aufgehoben, Jacky«, hatte sie gesagt. »Hier kommt alles wieder in Ordnung. Es ist ein guter Ort.«
Eine Möwe glitt über das Dach des Hotels, und für einen Moment hatte Jack das beunruhigende Gefühl, der Wetterhahn hätte sich in die Luft geschwungen.
»Für eine Weile sind wir dem Telefon entkommen, stimmt's?«
»Stimmt«, hatte Jack gesagt. Sie wollte sich vor Onkel Morgan verstecken, sie wollte sich nicht mehr mit dem Geschäftspartner ihres toten Mannes herumschlagen, sie wollte mit einem elementaren Martini ins Bett kriechen und die Decke über den Kopf ziehen ...
Mom, was stimmt nicht mit dir?
Es gab zu viel Tod, der Tod hatte die Welt halb verrückt gemacht. Über ihnen schrie die Möwe.
»Und nun beweg dich, Junge, beweg dich«, hatte seine Mutter gesagt. »Sehen wir zu, dass wir in dieses fantastische Haus hineinkommen.«
Dann hatte Jack gedacht: Wenigstens ist da immer noch Onkel Tommy, der uns hilft, wenn wir zu tief in der Patsche sitzen.
Aber auch Onkel Tommy war tot; die Nachricht steckte lediglich noch am anderen Ende zahlloser Telefondrähte.

Das Alhambra ragte über dem Wasser, ein großer, viktorianischer Kasten auf riesigen Granitblöcken, die fast nahtlos mit der flachen Landzunge zu verschmelzen schienen - ein vorstehendes Schlüsselbein aus Granit auf dem nur wenige Meilen langen Küstenstreifen von New Hampshire. Von da, wo Jack am Strand stand, waren die landwärts gelegenen Gärten kaum zu sehen - ein dunkelgrüner Streifen Hecke, das war alles. Der Messinghahn stand schwarz vor dem Himmel, nach West-Nordwest gerichtet. Eine Plakette in der Halle verkündete, dass hier die Northern Methodist Conference im Jahre 1838 die erste ihrer großen Kundgebungen für die Abschaffung der Sklaverei in Neuengland abgehalten hatte. Daniel Webster hatte eine zündende Rede gehalten. Der Plakette zufolge hatte er gesagt: »Wisset von diesem Tage an, dass die Sklaverei als amerikanische Institution zu kränkeln begonnen hat und in all unseren Staaten und Territorien bald sterben muss.«

So waren sie angekommen an jenem Tag der vergangenen Woche, an dem die Unruhe der letzten Monate in New York geendet hatte. In Arcadia Beach gab es keine von Morgan Sloat beauftragten Anwälte, die aus Autos sprangen und Papiere schwenkten, die unterschrieben und zu den Akten gelegt werden mussten, Mrs. Sawyer. In Arcadia Beach läutete das Telefon nicht von mittags bis drei Uhr morgens (Onkel Morgan schien vergessen zu haben, dass die Uhren der Bewohner von Central Park West eine andere Zeit anzeigten als die von Kalifornien). In Arcadia Beach läutete das Telefon überhaupt nicht.
Als sie den kleinen Badeort erreicht hatten und seine Mutter sich so aufs Fahren konzentrierte, dass sie fast schielte, hatte Jack nur einen Menschen auf den Straßen gesehen - einen verrückten alten Mann, der einen leeren Einkaufswagen ziellos auf dem Gehsteig vor sich herschob. Über ihnen ein leerer grauer Himmel, ein unerfreulicher Himmel. In krassem Gegensatz zu New York gab es hier nur das stetige Geräusch des Windes, der durch verlassene Straßen heulte, die das Fehlen jeglichen Verkehrs viel zu breit erscheinen ließ. Hier gab es leere Läden mit Schildern in den Schaufenstern, auf denen stand NUR AM WOCHENENDE GEÖFFNET oder, schlimmer noch, AUF WIEDERSEHEN IM JUNI! Es gab hundert leere Parkplätze auf der Straße vor dem Alhambra, leere Tische im Arcadia Tea and Jam Shoppe nebenan.
Und schäbige, verrückte alte Männer schoben Einkaufswagen durch verlassene Straßen.
»In diesem komischen kleinen Nest habe ich die glücklichsten drei Wochen meines Lebens verbracht«, erklärte ihm Lily, als sie an dem alten Mann vorüberfuhr (der sich, wie Jack bemerkte, umdrehte, um ihnen bestürzt und argwöhnisch nachzublicken; er murmelte etwas, aber Jack konnte nicht verstehen, was er sagte) und dann den Wagen auf die Auffahrt lenkte, die sich durch den Vorgarten des Hotels wand.
Deshalb also hatten sie alles, was sie zum Leben brauchten, in Koffer, Taschen und Einkaufsbeutel gestopft und den Schlüssel im Schloss der Wohnungstür umgedreht (ohne sich um das schrille Läuten des Telefons zu kümmern, das durch eben dieses Schlüsselloch hindurchzudringen und sie bis in die Halle zu verfolgen schien); deshalb hatten sie den Kofferraum und den Fond des Mietwagens mit überquellenden Tüten und Taschen gefüllt und waren stundenlang auf dem Henry Hudson Parkway nordwärts gekrochen und anschließend weitere Stunden die Interstate 95 entlanggerollt: Lily Cavanaugh Sawyer war hier einmal glücklich gewesen. 1968, ein Jahr vor Jacks Geburt, war Lily für ihre Rolle in einem Film mit dem Titel Blaze für den Oscar vorgeschlagen worden. Blaze war besser gewesen als die meisten anderen Filme; in ihm hatte Lily ein wesentlich größeres Talent zur Schau stellen können, als die schlimmen Mädchen, die sie gewöhnlich spielte, vermuten ließen. Niemand rechnete damit, dass sie einen Oscar bekam, am wenigsten Lily selbst. Aber Lily nahm das oft beanspruchte Klischee der bloßen Ehre einer Nominierung für bare Münze - sie fühlte sich wirklich und zutiefst geehrt, und um diesen Augenblick beruflicher Anerkennung zu feiern, war Phil Sawyer in weiser Voraussicht für drei Wochen mit ihr ins Alhambra Inn and Gardens gefahren, an die andere Seite des Kontinents, wo sie, im Bett Champagner trinkend, der Oscarverleihung im Fernsehen zugeschaut hatten. (Wenn Jack älter gewesen wäre und es ihn interessiert hätte, dann hätte er errechnen können, dass das Alhambra der Ort war, an dem sein eigentliches Dasein begonnen hatte.)
Als die Nominierungen für die weiblichen Nebenrollen verlesen wurden, hatte Lily, der Familienlegende zufolge, Phil angefaucht: »Wenn ich dieses Ding bekomme und nicht dabei bin, dann tanze ich mit Pfennigabsätzen auf deinem Brustkorb Boogie.«
Aber als Ruth Gordon den Oscar erhielt, hatte Lily gesagt: »Sie verdient ihn, sie ist ein prächtiges Mädchen.« Und gleich danach hatte sie ihrem Mann einen Rippenstoß versetzt und gesagt: »Sieh gefälligst zu, dass du mir bald wieder eine solche Rolle beschaffst, du großes Tier von einem Agenten.«
Es hatte keine solchen Rollen mehr gegeben. Lilys letzte Rolle, zwei Jahre nach Phils Tod, war die einer zynischen Ex-Prostituierten in einem Film mit dem Titel Motorcycle Maniacs gewesen.
Jack wusste, dass Lily jetzt an diese Zeit zurückdachte, als er das Gepäck aus dem Kofferraum und dem Fond zerrte. Ein d'Agostino-Beutel war bis auf das große D'AG hinunter aufgerissen und hatte einen Wust von aufgerollten Socken, losen Fotos, Schachfiguren, Schachbrett und Comics über alles andere im Kofferraum entleert. Jack gelang es, den größten Teil dieser Sachen in anderen Beuteln zu verstauen. Lily stieg langsam die Vordertreppe hinauf und zog sich dabei am Geländer hoch wie eine alte Dame. »Ich schicke den Pagen«, sagte sie, ohne sich umzudrehen.
Jack richtete sich von den voll gestopften Beuteln auf und blickte wieder zum Himmel empor, wo er einen Regenbogen gesehen zu haben glaubte. Es war kein Regenbogen da, nur der unerfreuliche, wechselhafte Himmel.
Und dann:
»Komm zu mir«, sagte hinter ihm jemand mit leiser und deutlich hörbarer Stimme.
»Wie?«, fragte er und fuhr herum. Vor ihm der leere Garten und die Auffahrt.
»Ja?«, sagte seine Mutter. Auf die Klinke der großen Holztür gestützt sah sie aus, als hätte sie einen krummen Rücken.
»Irrtum«, sagte er. Da war keine Stimme gewesen, kein Regenbogen. Er vergaß beides und blickte zu seiner Mutter hinauf, die sich mit der riesigen Tür abmühte. »Warte, ich helfe dir«, rief er und trabte die Stufen hinauf, beladen mit einem großen Koffer und einer bis zum Platzen mit Pullovern voll gestopften Papiertüte.

Bevor er Speedy Parker begegnete, hatte sich Jack durch die Tage im Hotel bewegt, ohne sich des Vergehens der Zeit deutlicher bewusst zu sein als ein schlafender Hund. In diesen Tagen voller Schatten und unerklärlicher Übergänge kam ihm sein ganzes Leben fast wie ein Traum vor. Selbst die entsetzliche Nachricht über Onkel Tommy, die am Abend zuvor eingetroffen war, hatte ihn, so bestürzend sie war, nicht vollständig aufgeweckt. Wäre Jack ein Mystiker gewesen, hätte er vielleicht gedacht, dass andere Kräfte von ihm Besitz ergriffen hatten und das Leben seiner Mutter und sein eigenes manipulierten. Mit seinen zwölf Jahren war Jack Sawyer gewohnt, etwas zu tun, und die stumme Untätigkeit dieser Tage im Gefolge des Trubels von Manhattan hatte ihn zutiefst verwirrt und aus der Fassung gebracht.
Jack hatte sich am Strand wiedergefunden, ohne Erinnerung daran, dass er hergekommen war, ohne Vorstellung davon, was er hier wollte. Vermutlich trauerte er um Onkel Tommy, aber ihm war, als wäre sein Verstand schlafen gegangen und hätte seinen Körper sich selbst überlassen. Er konnte sich nicht lange genug konzentrieren, um der Handlung der Situationskomödien zu folgen, die er und Lily im Fernsehen sahen, oder Einzelheiten seiner Bücher im Kopf zu behalten.
»Du bist müde von all dieser Herumzieherei«, hatte seine Mutter gesagt, während sie einen tiefen Zug aus ihrer Zigarette tat und ihn durch den Rauch hindurch anblinzelte. »Aber du brauchst nichts zu tun, Jacko. Dies ist ein guter Ort. Genießen wir ihn, so lange wir können.«
Auf dem leicht rotstichigen Fernsehbild betrachtete Bob Newhart nachdenklich einen Schuh, den er in der rechten Hand hielt.
»Genau das tue ich, Jacky.« Sie lächelte ihn an. »Ich ruhe mich aus und genieße es.«
Er sah auf die Uhr. Zwei Stunden hatten sie vor dem Fernseher gesessen, und er konnte sich an nichts erinnern, was dieser Sendung voraufgegangen war.
Jack wollte gerade zu Bett gehen, als das Telefon läutete. Der gute alte Onkel Morgan Sloat hatte sie aufgespürt. Onkel Morgans Neuigkeiten waren nie sehr erfreulich, aber wie es schien, war dies sogar nach Onkel Morgans Maßstäben eine Bombe.

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